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Märchen: Veraltet oder zeitgemäß?

Märchen
Märchen: Veraltet oder zeitgemäß? | Foto: © tomertu #180424397 – stock.adobe.com

Märchen sind ein wichtiger Teil der Kindheit vieler Erwachsener. Heute fragen sich Eltern vermehrt, ob sie ihren Kindern auch Märchen vorlesen oder davon erzählen sollen. Sind die Geschichten zu brutal oder nicht mehr zeitgemäß? Zu diesem Thema äußerte sich nun eine Psychologin.

Realitätsfremde Erzählungen?

In seinem 1976 publizierten Buch „Kinder brauchen Märchen“ argumentierte der namhafte Erziehungswissenschaftler Bruno Bettelheim vor mehr als 40 Jahren, dass Märchen für Kinder wichtige Lehrmeister sind. Dennoch gibt es heutzutage viele Eltern, die sich nicht sicher sind, ob sie ihrem Nachwuchs die Geschichten vorlesen sollen.

Kritiken wie „realitätsfremde Erzählungen“ oder eine Darstellung veralteter Rollenbilder sind vielleicht nicht zu 100 Prozent von der Hand zu weisen.

Erschwerend kommt hinzu, dass viele dramatische Szenen zu brutal dargestellt werden.

Realitätsfremde Erzählungen
Kritiken wie „realitätsfremde Erzählungen“ oder eine Darstellung veralteter Rollenbilder sind vielleicht nicht zu 100 Prozent von der Hand zu weisen | Foto: © Elena Schweitzer #234223852 – stock.adobe.com

Darstellungen von beängstigenden Szenarien

Es sind Szenen wie die Mutter von Peter Pan, die ihr Kind vergessen und einfach durch ein anderes Kind ersetzen möchte. Oder die Geschichte der sechs Geißlein, die vom Wolf vertilgt und dann wieder aus dessen Bauch heraus geschnitten werden.
Die böse Hexe wird von Hänsel und Gretel einfach in den brennenden Ofen geschubst. Solche Inhalte sind zwar spannend, erzeugen aber auch Angst. Sind kontroverse Diskussionen um die Geschichten deshalb berechtigt?

Hänsel und Gretel
Die böse Hexe wird von Hänsel und Gretel einfach in den brennenden Ofen geschubst | Foto: © Lars Gieger #219323415 – stock.adobe.com

Einst für Erwachsene geschrieben

Zur Historie der Märchen lässt sich sagen, dass die Erzählungen ursprünglich als unterhaltendes Medium für Erwachsene dienten.

Einst war es sogar üblich, dass Kinder die Zimmer verlassen mussten, bevor sich Erwachsene die Märchen erzählten.

Originale Versionen enthielten zum Teil sogar erotische Elemente. Erst im Laufe der Zeit wurden die Erzählungen den Bedürfnissen von Kindern angepasst.

Wichtige Werte vermitteln

Natürlich sind Märchen keine Erzählungen, die Rollenbilder der modernen Gesellschaft vermitteln. Die brutale Seite von Erzählungen wie „Schneewittchen“ oder „Rotkäppchen“ ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Doch Kindern werden durch Märchen andere wichtige Werte vermittelt. Die kleinen Zuhörer erlernen, dass Selbstvertrauen, ein guter Gerechtigkeitssinn oder das Aufzeigen von Emotionen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.

Märchen setzen sich zum Teil mit schwierigen Themen auseinander, die dennoch ein wichtiger Teil unserer heutigen Realität sind. Es geht um Freundschaft, Eifersucht, Liebe oder den Umgang mit Verlusten – allesamt Herausforderungen, die Kinder auch in unserer heutigen Zeit meistern müssen. Spannende Erzählungen regen die bildliche Vorstellungskraft der Kinder an.
Die märchenhaften Erzählformen verbessern die Konzentration, fördern Kreativität und begünstigen die sprachliche Entwicklung. Können sich Kinder mit einzelnen Figuren der Erzählungen identifizieren, wird die Empathie der kleinen Zuhörer angeregt.

Märchen vermitteln wichtige Werte
Natürlich sind Märchen keine Erzählungen, die Rollenbilder der modernen Gesellschaft vermitteln | Foto: © deagreez #344142327 – stock.adobe.com

Ängste überwinden

Typische Merkmale traditioneller Märchenerzählungen sind ewig währende Kämpfe zwischen Gut und Böse, die Verdeutlichung menschlicher Abgründe und das Auftauchen heroischer Retter. Ebenso typisch ist es für die Erzählungen, dass sich letztendlich alles zum Guten wendet.

Diese immer wieder auftretenden inhaltlichen Besonderheiten beweisen, dass sich auch schier ausweglose Situationen durch Stärke und Mut meistern lassen.

Auf diese Weise erlernen Kinder, sich selbst und auch anderen Personen zu vertrauen. Märchen unterstützen Jungen und Mädchen dabei, einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit zu entwickeln. Die kleinen Zuhörer und Leser erlernen implizit, dass es auch im wahren Leben funktioniert, Ängste zu überwinden und an Gerechtigkeit zu glauben.

Differenzierte Wahrnehmung von Grausamkeit

Zudem betonen Wissenschaftler, dass Kinder die in den Geschichten vermittelte Grausamkeit überhaupt nicht so tragisch wahrnehmen. Die bildhafte Darstellung des bei lebendigem Leib aufgeschlitzten Wolfs empfinden Erwachsene zwar als grausam. Für Kinder ist dieser Akt jedoch ein Zeichen der Gerechtigkeit. Viel tragischer sind für Kinder Situationen wie das Schicksal von Hänsel und Gretel, die im Wald von ihren Eltern ausgesetzt werden. Schließlich wird durch diese Handlung das Urvertrauen der Kinder verletzt.

Doch auch diese Auseinandersetzung mit der eigenen Angst ist für den Nachwuchs wertvoll. Auf diese werden die Jungen und Mädchen mit ihren eigenen Gefühlen konfrontiert. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die Kinder negative Emotionen entwickeln.
Allerdings erfreuen sich die Kinder an Erfolgserlebnissen, wenn die Geschichten ein gutes Ende bieten. Reflektieren Groß und Klein daraufhin gemeinsam über das Gefühlsleben der Kinder, hinterfragen die Kleinen dadurch ausgelöste Gedanken und Gefühle immer wieder aufs Neue. Somit ist eine wichtige Grundlage für die kindliche Entwicklung geschaffen.

Kinder freuen sich an Erfolgserlebnissen
Kinder erfreuen sich an Erfolgserlebnissen, wenn die Geschichten ein gutes Ende bieten | Foto: © deagreez #336719688 – stock.adobe.com

Geschickte Formulierungen

Nach den Erzählungen stellen sich Kinder auch oft die Frage, ob die Situationen und böse Figuren auch in der Realität erscheinen könnten. Die Jungen und Mädchen haben Angst, dass sie in ähnliche Situationen geraten könnten. Sichern Eltern jedoch ihren Rückhalt zu, erscheinen die Erzählungen weniger bedrohlich.

Zugleich erschaffen Märchen dadurch die Voraussetzung, dass Kinder verstehen, dass Emotionen wie Schmerz oder Ereignisse wie der Tod zum Leben dazugehören.

Eine wichtige Rolle spielt es außerdem, dass die Erzählungen mit Sätzen wie „Es war einmal …“ beginnen und auf Schlusssätze wie „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ enden. Diese Formulierungen helfen Kindern dabei, die Geschehnisse etwas distanzierter zu betrachten und von der Realität zu separieren.

Märchen als Bereicherung

Spannende Erzählungen sind in jedem Alter eine Bereicherung. Doch besonders wichtig sind die Geschichten in der Kindergartenzeit – der Phase des „magischen Denkens“. In diesem Zeitraum vermischen sich oftmals fiktive Gedanken sowie die Realität der Jungen und Mädchen. Deshalb sind Märchenerzählungen bestens dafür geeignet, um die eigene Traumwelt zu erkunden.
Zugleich unterstützt es die intensive Bindung zwischen den Kindern und Eltern oder Großeltern, wenn sich der Nachwuchs beim Vorlesen von den fantastischen Geschichten berieseln lässt. Im späteren Leben ist dieser Moment gewiss eine der schönsten Kindheitserinnerungen.